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Liubov Karakoz

(Interview in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Mai 2016.)

Ich wurde 1953 in Leningrad geboren, aber alle meine Verwandten und Vorfahren stammen aus der Ukraine.

Die Familie meiner Mutter hat in Perwomajsk, Odessa-Gebiet (jetzt Nikolajew-Gebiet) gewohnt. Die Familie meines Vaters hat auch im Odessa-Gebiet, Ort Goloskowo, gewohnt. Die Familien waren recht groß: meine Großeltern mütterlicherseits hatten elf Kinder und meine Großeltern väterlicherseits hatten fünf Kinder (die im Säuglingsalter gestorbenen habe ich nicht mitgerechnet).

Mein Großvater mütterlicherseits wurde in Lodz, Polen, geboren. 1894 heiratete er meine Großmutter Taba Goldguber, die aus Perwomajsk (damals Golta) stammte. Ein Teil der Familie ist in den 30er Jahren nach Gorkij gezogen, aber drei Brüder meiner Mutter sind in Kherson in der Ukraine geblieben.

Meine Großmutter starb kurz vor dem Krieg und mein Großvater zog zu seinen Söhnen nach Kherson. Dort heiratete er zum zweiten Mal. Er war in Kherson, als der Krieg ausbrach. Die Söhne wurden an die Front einberufen, deren Ehefrauen konnten rechtzeitig evakuiert werden. Sie haben versucht, den Großvater zu überreden mitzufahren, aber er hat sich geweigert. Er wollte seine Frau, die eine behinderte Tochter hatte, nicht zurücklassen. Er hat gesagt „Uns kann nichts Schlimmes passieren!“ So blieb er in Kherson.

Meine Mutter hat mir von seinem Schicksal erzählt, aber sie selber hatte keine genaue Information. Nach dem Krieg gab es in der Sowjetunion keinen Begriff „Holocaust“. Es wurde davon nicht öffentlich geredet, aber die Leute wussten, was mit Juden geschehen war, als die deutschen Truppen in die Stadt einmarschierten. Man konnte vermuten, er sei ums Leben gekommen. Meine Mutter hat versucht, ihn zu finden, sie verschickte Briefe, die nicht beantwortet wurden. Nur einmal hat sie eine Antwort vom Kriegskommissariat bekommen, dass ihr Vater nicht in den Listen der Gefallenen eingetragen war. In dem Brief stand, dass während der Besatzung der Stadt Kherson dreitausend sowjetische Bürger ums Leben gekommen waren, aber von den Juden wurde kein Wort gesagt. Meine Mutter konnte nur vermuten, was tatsächlich passiert war.

Ich fuhr öfters nach Kherson und einmal auf dem Rückweg kam ich mit einer mitreisenden Frau ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass sie, damals, während des Krieges in Kherson, 17 Jahre alt war. Ich erzählte ihr, dass mein Opa dort gelebt hatte und umgekommen war. Sie fragte, wie er hieß. Es stellte sich heraus, dass sie Nachbarn gewesen waren. Sie erzählte, wie die Deutschen in die Stadt einmarschierten und zwei bis drei Tage später mit der Suche nach Juden begannen. Eines Nachts haben sie alle Juden aus ihren Häusern getrieben und nebeneinander in Reihen gestellt. Die Frau sagte, sie habe so einen herzzerreißenden Schrei nie im Leben gehört. Diesen Alptraum erlebt sie immer wieder. Da standen alle zusammen – Frauen, Kinder, ältere Menschen, Behinderte in Rollstühlen… Sie wurden dann in Kolonnen abgeführt und am nächsten Tag kursierten Gerüchte, dass man alle Juden erschossen hätte. Als den Deutschen die Patronen ausgingen, fingen sie an, Menschen lebendig in den Gräben zuzuschütten.

So habe ich erfahren, wie mein Großvater, Kovler Ksil-Wolf ermordet wurde. Sein Name ist im Buch der Erinnerung in Yad Vashem eingetragen.

https://youtu.be/gA64j-OAEeY?t=108

zeitzeugen/cherson/liubov_karakoz.txt · Zuletzt geändert: 2019/07/18 18:56 von matthias